Samstag, 30. April 2011

Der Staat ist keine Erziehungsanstalt

"Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein", befand Guido Westerwelle im Februar 2010 in der Zeitung "Die Welt". Mich stören an diesem Zitat drei Dinge:

-- Der Begriff "das Volk". Wenn wir mal davon absehen, dass er nicht mehr zeitgemäß wirkt - der neutralere Begriff "Bevölkerung" wäre angemessener - erscheint es vor allem befremdlich, dass Westerwelle sich offensichtlich als vom "Volk" getrennt betrachtet: Hier Politiker - dort Volk. Die Regierung ist jedoch keine vom Rest des Landes losgekoppelte Entität. Politiker sind Bürger, genauso wie alle anderen.

-- Die Tatsache, dass er anscheinend der Ansicht ist, diese "abgetrennte" Regierung sei dazu da, die Staatsbürger zu einer Mentalität der Leistungsbereitschaft zu erziehen.

-- Dass er anstrengungslosen Wohlstand mit Dekadenz gleichsetzt.

Ich möchte mich im Augenblick auf den zweiten Punkt konzentrieren. Einer weit verbreiteten Auffassung zufolge soll der Staat anscheinend bis zu gewissem Grade die Funktion einer moralischen Anstalt übernehmen. In dieser Hinsicht ähnelt der Neoliberalismus der Gegenwart den sozialistischen Ostblockstaaten der Vergangenheit. Beide betrachten die Bevölkerung als eine Art formbare Masse, die vom Regiment der Regierung in eine sozial verträgliche Form geknetet werden muss.

In den Ostblockstaaten war vom "sozialistischen Menschen" die Rede. Die Idee war, dass durch staatliche Erziehungsmaßnahmen - die von den Jungpionieren über die FDJ bis zu verpflichtenden Marxismus-Leninismus-Vorlesungen an den Universitäten und einer mehr oder weniger reglementierten "sozialistischen Kultur" reichten - die Menschen zu glücklichen Mitgliedern eines sozialistischen Staates erzogen werden sollten, die ihr Leben der "gemeinsamen Sache" widmen. Die Betonung liegt allerdings auf glückliche Mitglieder. Der Marxismus geht davon aus, dass die Menschen eigentlich innerlich bereits Kommunisten sind - zuweilen ist sogar vom "Urkommunismus" die Rede, der angeblich herrschte, bevor die Produktionsmittel privatisiert und Kapital angehäuft wurde. Wenn der Staat die Bürger nun so formt, dass die kommunistische Natur herauskommt, werden sie sich dieser Auffassung zufolge befreit und glücklich fühlen. Der Marxismus geht in dieser Hinsicht von einem - zumindest von kommunistischer Warte aus gesehen - optimistischen Menschenbild aus. Interessant ist übrigens, dass besonders glühende Anhänger eines optimistischen Menschenbildes zu außerordentlicher Grausamkeit fähig sind, wenn die so hoffnungsvoll betrachteten Menschen irgendetwas tun, was diesem Bild nicht zu entsprechen scheint.

Der Neoliberalismus vertritt dagegen ein negatives Menschenbild. Die Menschen werden als von Natur aus faul und unsozial betrachtet, und Aufgabe des Staates soll die Erziehung der Bürger zum Fleiß sein - da sie größtenteils nicht freiwillig arbeiten, soll dies durch Sanktionen erzwungen werden: Struwwelpeter-Politik. Hinter Hartz IV steckt eine Art "Zuckerbrot-und-Peitsche"-Denken, wobei der Peitsche weitaus mehr Platz gegeben wird. In den extremeren Formen des Neoliberalismus schwingt sogar eine auffallend unangenehme Form des "Klassenbewusstseins von Oben" mit: Unternehmer sollen besonders viele Freiheiten eingeräumt bekommen - auch hinsichtlich Umwelt- und Arbeitsschutz - Arbeitnehmer sollen dagegen hart an die Kandare genommen werden, damit sie ja nicht auf den Gedanken kommen, zuwenig zu arbeiten oder Leistungen zu beziehen, die ihnen vielleicht nicht zustehen. Anscheinend sind nach dieser Auffassung nicht nur Politiker die Gouvernanten der Bevölkerung - die Oberschicht ist auch noch wesentlich weniger erziehungsbedürftig als die Mittel- oder Unterschicht.

Ich möchte die Frage nach der Natur des Menschen mal hintanstellen. Meiner Meinung nach ist es sowieso problematisch, von einer "menschlichen Natur" zu sprechen: Menschen sind charakterlich viel zu unterschiedlich, als dass man ihnen eine einheitliche Natur zuschreiben könnte. Was ich vielmehr in Frage stellen möchte, ist die ganze Idee, dass der Staat die Bürger erziehen sollte. Er hat natürlich die Aufgabe, darauf zu achten, dass sie sich an die Gesetze halten. Aber er ist nicht dazu da, uns in irgendeiner Weise zu formen, umzuerziehen oder moralisch aufzubauen. Das mag nach Aristoteles' Auffassung die Rolle des Theaters sein. Aber es ist nicht die Rolle der Regierung. Die Politiker sind Bürger, genauso wie alle anderen Menschen. Und Erwachsene haben es nicht nötig, sich von anderen Erwachsenen moralisch erziehen zu lassen. Wir leben schließlich nicht in einem Kindergarten.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen