Samstag, 23. April 2011

Flügge, aber zögerlich - Raumfahrt in der Literatur

Wenn ich im Augenblick aus dem Fenster sehe, fällt mein Blick auf ein rotes Backsteingebäude und ein Gewirr grüner Baumkronen, die sich vor dem stahlblauen Aprilmorgenhimmel abzeichnen. Denkt man sich das rote Haus weg, ist die Aussicht vielleicht kaum verschieden von der, die vor über 200 Jahren Friedrich Schiller genoss, wenn er aus seinem Gartenhaus hinaus sah, das knapp 100 Meter von hier entfernt steht: Eine vertraute Landschaft, bedeckt mit saftiger Vegetation. Eine Welt, in der man sich zuhause fühlen kann. Eine vertraute Welt.

Der Schein trügt in gewisser Hinsicht. Schon in zehn Kilometern Höhe - das ist weniger als die Strecke von hier (Jena) bis Weimar - hat man 90% der irdischen Lufthülle unter sich gelassen. In 100 Kilometern Höhe - weniger als die Entfernung bis Eisenach - beginnt nach Definition der Federation Aeronautique International der Weltraum: The Final Frontier, um das Star Trek Intro zu zitieren. Das ultimative Unbekannte, der sprichwörtliche weiße Fleck auf der Karte. Ein Gebiet, das jenseits menschlicher Erfahrung liegt, das Forscher und Entdecker herausfordert.

Völlig weiß ist der Fleck natürlich nicht mehr: Vor fünfzig Jahren unternahm Juri Gagarin den ersten bemannten Vorstoß ins Weltall. 1969 betrat Neil Armstrong als erster Mensch einen anderen Himmelskörper als die Erde - den Mond in 380 000 km Entfernung. Roboter sind bis an die Grenzen unseres Sonnensystems und sogar darüber hinaus vorgestoßen. Letzteres ist allerdings eine Definitionssache: Setzt man als Grenze des Sonnensystems die Heliopause an (die Region, in der der Teilchenstrom von der Sonne ins dünne interstellare Gas übergeht), dann hat Pioneer 10 es bereits verlassen, lässt man es sich allerdings bis zur Oort'schen Wolke erstrecken, dann ist er noch weit innerhalb. Zusätzlich spähen auf der ganzen Welt große und kleine Teleskope in allen Wellenlängenbereichen tief in die Abgründe von Raum und Zeit.

Von vielen Menschen werden diese Forschungen mit großem Interesse verfolgt. Wenn wir dienstags- und samstagabends die Urania-Volkssternwarte für Besucher öffnen, stehen die Gäste bald dichtgedrängt um das Teleskop und durchlöchern uns mit Fragen. Stellt man ein paar Instrumente am Sidewalk Astronomy Day auf die Strasse, schwärmen die Leute herbei. Besonders Kinder sind oft von den Sternen und Himmelskörpern fasziniert und trumpfen zuweilen mit mehr Hintergrundwissen auf als mancher Erwachsene.

Astronomie ist vermutlich die Wissenschaft, die bei Laien auf das stärkste Interesse stößt. Oft hört man Sätze wie: "Ja, wenn ich das mit der Mathematik könnte - dann würde ich das beruflich machen".

Angesichts des starken öffentlichen Echos scheint es umso verblüffender, das Astronomie und Raumfahrt in der Kunst eine Art Schattendasein führen. Gemälde, Romane, Theater und andere Formen der sogenannten "Highbrow-Kultur" sind inhaltlich im wesentlichen auf den angestammten Wohnraum des Menschen beschränkt geblieben: Die Erde. Seit den Zeiten Friedrich Schillers hat sich im Bewußtsein der Künstler wenig geändert: Was außerhalb der vertrauten irdischen Umgebung liegt ist bestenfalls unbekannt und schlimmstenfalls irrelevant.

Natürlich existieren Ausnahmen. Hans Castorp unternimmt im "Zauberberg" eine innere Reise vom Kleinsten bis zum Größten, von der Welt der Moleküle bis zu fernen Planeten. Arno Schmidt schickt in "KAFF - auch Mare Crisium" mittlere Angestellte auf einen imaginären Mondausflug. Thomas Pynchon spinnt in "Gravity's Rainbow" ein groteskes, halluzinatorisches Gebilde von quasi fraktal ineinandergeschachtelten Geschichten um die Anfänge der Raketentechnik. Die Mehrheit der Künstler verlässt die Wiege, in die die Menschheit sich seit Jahrhunderttausenden gekuschelt hat, jedoch lieber nicht.

Nicht so die Populärkultur. Schon Jules Verne ließ seine Figuren im 19. Jahrhundert zu anderen Himmelskörpern reisen. Der eigentliche Urknall der Science Fiction war jedoch die Gründung des Magazins "Amazing Stories" von Hugo Gernsback im Jahr 1926. Eine stetig anwachsende Lawine von Stories, Romanen, Comics, Filmen, TV-Serien und zuletzt auch Videospielen inszenierte das Geschick der Menschheit im Kosmos, beschrieb die Besiedlung anderer Himmelskörper, Kontakte und Konflikte mit außerirdischen Lebensformen und die Suche nach letzten Gründen und Gesetzmäßigkeiten in den Abgründen des Universums. Und eine große Fangemeinde wartet stets auf neue Abenteuer.

Nichtsdestotrotz werden all diese Geschichten meist als bloße Unterhaltung angesehen. Kurt Vonnegut sprach einmal von der Science Fiction als "Pissbecken der Literatur". In vielen Fällen haben die Kritiker nicht Unrecht: Ein Großteil der Science Fiction weist schematische Handlungslinien, flache Charaktere mit wenig Innenleben und eine hölzerne Sprache auf. Hält man die erste Seite der "Foundation Trilogy" von Isaac Asimov neben die erste Seite der "Blechtrommel" von Günter Grass, dann bemerkt man schon nach wenigen Sätzen den haushohen Unterschied zwischen der kraftlosen, etwas geschwätzig wirkenden Sprache von Asimov und den mächtigen, manchmal wie ein fernes Gewitter grollenden Sätzen von Grass. Es existieren natürlich durchaus Science Fiction-Romane die auch von der etablierten Literatur positiv aufgenommen wurden: "Brave New World" von Aldous Huxley, "Fahrheit 451" von Ray Bradbury, "1984" von George Orwell und nicht zuletzt einige der Romane von Michel Houellebecq. Allen diesen Werken ist jedoch gemeinsam, dass sie auf der Erde spielen und eine (im wesentlichen negative) Weiterentwicklung der irdischen Gesellschaft in der Zukunft beschreiben. Die Raumfahrt spielt in ihnen keine Rolle.

Eine ganz andere Situation herrschte in den ehemaligen Ostblockstaaten. Hier wurde Science Fiction ohne zu zögern als "richtige Literatur" anerkannt. Die Werke von Autoren wie dem Polen Stanislaw Lem oder den sowjetrussischen Gebrüdern Arkadi und Boris Strugazki reihten sich im Regal neben Dostojewski ein, ohne dass dieser - bzw. seine moderne Stammleserschaft - darüber die Nase gerümpft hätte.

Sei es, dass die sozialistische Tradition der Ostblockstaaten Technik, Industrie und Wissenschaft als wichtigstes Rückgrad der Gesellschaft ansah und die Science Fiction deshalb als logische Ausdrucksform der modernen Zivilisation betrachtet wurde, sei es, dass gedankliche Ausflüge in ferne Welten die einzige Möglichkeit darstellten, die diktatorischen Regimes dieser Staaten zu kritisieren ohne dass die Zensur zuschlug - was auch immer die Ursache für die höhere Wertschätzung der osteuropäischen Science-Fiction-Literatur war: Abgesehen von ihrem höheren gesellschaftlichen Stellenwert waren die Romane auch einfach sprachlich und inhaltlich den amerikanischen Kollegen oft um vieles überlegen. Bücher wie Lems "Der Unbesiegbare", die "Kyberiade" oder "Picknick am Wegesrand" der Gebrüder Strugazki hängen von der literarischen Qualität her jeden Asimov oder Clarke mühelos ab.

Stanislaw Lem hatte meist wenig Gutes über die amerikanische Science Fiction zu sagen. Ihm zufolge war sie nie wirklich aus der Groschenheft-Gosse herausgeklettert, er bezeichnete sie sogar als "hoffnungslosen Fall", bei dem es jedoch Ausnahmen gebe (eine dieser Ausnahmen war Lem zufolge Philip K. Dick). Er fügte hinzu, dies läge nicht an prinzipiellen Einschränkungen dieser Art von Literatur, sondern daran, dass die Autoren die Möglichkeiten des Genres einfach nicht voll ausschöpfen würden.

Ich würde hinzufügen, dass es auch daran liegt, dass das kulturelle Bewußtsein einfach recht langsam auf technisch-wissenschaftliche Fortschritte reagiert. Obwohl die Menschheit bereits in den Kosmos ausgeflogen ist, hat die Kunst bisher nur zögerliche Blicke über den Nestrand geworfen. Ähnlich wie neu entdeckte Erdteile - Amerika, Ostasien, Australien - in der frühen Neuzeit nur langsam ins kulturelle Bewußtsein der Europäer vordrangen, sind andere Himmelskörper bisher noch nicht vollständig Teil unserer "Weltwahrnehmung" geworden.

In der Zukunft wird sich dies ändern. Wenn die Menschheit erst im großen Stil in den Kosmos aufgebrochen ist und permanente Kolonien auf anderen Planeten gegründet hat, werden auch die Schriftsteller und Künstler sich vermehrt mit dieser Thematik beschäftigen. Vielleicht ist es sogar an der Zeit, dass wir unsere gesamte Vorstellung von "Erde hier" - "Kosmos dort" verwerfen und zu einem integrierteren Weltbild übergehen - der Weltraum ist, anders als die antiken Philosophen dachten, kein jenseitiges, separates Reich, in dem ganz andere Gesetze als auf der Erde gültig sind. Die fernsten Galaxien werden von der gleichen Physik beherrscht wie das Zimmer, in dem ich gerade sitze. Erde und Weltraum sind keine voneinander getrennten Bereiche - man sollte eigentlich sagen: Wir sind bereits im Weltraum. Während wir hier auf der Erde unseren alltäglichen Geschäften nachgehen, befinden wir uns auf einem Planeten des Sonnensystems mitten im All. Lediglich eine dünne Lufthülle und ein Magnetfeld schützen uns vor Vakuum und Strahlung. Um mit Buckminster Fuller zu reden: Die Erde ist eigentlich ein Raumschiff, auf dem wir durch das Universum kreuzen. Und es ist an der Zeit, dieses Raumschiff zu verlassen und andere Orte zu erforschen und zu bewohnen. Der Kosmos ruft uns... darüber ein andermal mehr!

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